Kreativität in den Geisteswissenschaften. Organisationssoziologische Überlegungen
Horst Kern
Zusammenfassung
In einer Zeit, in der die Wissenschaftspolitik derjenigen Form von Ressourcenallokation besonderes Interesse entgegenbringt, die die Kreativität der Wissenschaftler stärkt, will man wissen, welcher Typ von Forschungsorganisation tatsächlich wissenschaftliche Kreativität begünstigt (also ausgebaut werden sollte) und welcher umgekehrt für kreative Arbeit weniger hilfreich ist (folglich zu vermeiden wäre). Dieser Informationsbedarf kontrastiert mit dem geringen Wissen, welches gegenwärtig zur Verfügung steht, und dies gilt ganz besonders für die Geisteswissenschaften. Das Papier liefert einige Ideen, wie diese Lücke gefüllt werden könnte. Da, aus soziologischer Perspektive, für wissenschaftliche Kreativität die Organisation der akademischen Arbeit, nicht aber der individuelle kreative Genius, am meisten zählt: von welchem Organisationstyp müssen wir dabei ausgehen und wie sehen wir die Beziehungen zwischen dem einzelnen Forscher und dieser Organisation? Das Papier setzt hier auf schwach institutionalisierte Organisationen und die kreative Kraft lockerer Verbindungen. Ein weiteres bedenkenswertes Problem betrifft die abhängige Variable: Wie soll „Kreativität“ operationalisiert werden? In den Geisteswissenschaften verfügen wir weder über unbestrittene Qualitätskriterien noch über allgemein anerkannte Wissenschaftspreise, auf die man sich beziehen könnte. Die Verwendung von Publikations- oder Zitationsindices führt ebenso wenig weiter, da diese Daten, speziell in den Geisteswissenschaften, fehlleiten, wenn es um die Erfassung kreativer Ereignisse geht. Das Papier führt diese Argumente aus und entwickelt ein Verfahren, mit dem akademische Kreativität in den Geisteswissenschaften identifiziert werden könnte. Dieses Verfahren setzt auf die Methode der Gruppendiskussion. Schließlich wird der Gegenstandsbereich, auf den sich das Papier bezieht – „Geisteswissenschaften“ – diskutiert. Bilden diese einen bestimmten Wissenschaftstypus, der klar von den, sagen wir, Naturwissenschaften, abgegrenzt werden kann? Wie immer man darauf antwortet, die Entscheidung wird ein willkürliches Moment haben, und – trotz eines vielleicht gemeinsamen Leitmotivs – Disziplinen mit unterschiedlichen Rhetoriken und epistemologischen Kulturen umfassen. Das Studium von geisteswissenschaftlicher Kreativität kann sich deshalb nicht auf eine „exemplarische“ Disziplin oder einen schmalen Satz von Disziplinen beschränken. Abschließend schlägt das Papier vor, sich (vorläufig) auf mindestens fünf Disziplinen zu konzentrieren (Geschichte, Literaturwissenschaften, Altertumswissenschaften, Philosophie, Soziologie).
Title (english)
Creativity within Social Sciences and Humanities
Abstract (english)
At a time in which science policy attaches much importance to the mode of resource allocation that fosters the creativity of scientists efficiently one wants to know what type of research organization actually encourages scientific creativity (hence should be strengthened) and, conversely, what type is less supportive for creative work (hence should be avoided). This demand for information contrasts with the low level of knowledge available at present, and this is all the more true for SSH (Social Sciences and Humanities, “Geisteswissenschaften”). The paper presents some ideas for filling this gap. As, from a sociological perspective, what matters for scientific creativity most is the organization of the academic work, not the individual creative genius, which type of organization do we have to picture and how do we conceive of the links between the individual scholar und that organization? The paper argues for an open understanding of organizations and the creative force of weak ties. A further problem to be well sorted out is the dependent variable: How shall we operationalize creativity? Within the SSH we neither have undisputed quality criteria nor broadly accepted academic prices on which we could rely. To make use, as an alternative, of publication or citation ratios is also flawed because, particularly in the case of SSH, these data are misleading when we are interested in capturing creative events. The paper elaborates these arguments and develops a procedure suitable to identify academic creativity in the SSH. This procedure builds on the method of group discussions. Finally the subject matter the paper focuses on, i. e. SSH, is discussed. Do they constitute a distinct type of science whose organization can be contrasted with the, say, natural sciences? However one responds, the decision will be a bit arbitrary and, in spite of a perhaps common “leitmotif”, will embrace disciplines with different rhetorics and epistemological cultures. Hence, the study of creativity in SSH cannot restrict itself to looking at one “exemplary” discipline or to a very small set of SSH-disciplines. Concluding the paper proposes to concentrate (temporarily) at least on five disciplines (history, literature, archaeology, philosophy, sociology).